Neue Kolumne

 
1. März 2022

Erfolgloser Erbschleicher

Ein Pflegefachmann, der selbständig erwerbstätig ist, pflegt und betreut während 17 Jahren eine Rentnerin. Bei einem Stundenansatz von Fr. 50.– wird er im Durchschnitt mit knapp Fr. 4800.– pro Monat von ihr entschädigt, bei einem Arbeitspensum von ca. 50 Prozent. Auf Wunsch der Rentnerin wird er zu ihrem Beistand ernannt. Die Rentnerin erteilt ihm eine Generalvollmacht in allen administrativen und finanziellen Belangen und setzt ihn als Vorsorgebeauftragten ein. Wenige Monate vor ihrem Tod errichtet sie ein Testament, in welchem sie ihre Liegenschaft dem Pflegefachmann vermacht. Als sie stirbt, weigern sich die Erben, dem Mann das Vermächtnis auszuliefern. Sie stellen sich auf den Standpunkt, dass er erbunwürdig ist.

Das Bundesgericht gibt ihnen recht. Es hält fest, es habe ein hohes Vertrauensverhältnis, zugleich aber eine grosse Abhängigkeit der Rentnerin gegenüber dem Pflegefachmann bestanden. Trotz gewisser sozialer Kontakte sei sie sehr einsam gewesen. Die Rentnerin sei davon überzeugt gewesen, dass sie nur dank dem Pflegefachmann nicht in ein Heim habe eintreten müssen. Der Pflegefachmann habe sich für seine Dienste grosszügig entlöhnen lassen. Er habe planmässig gehandelt und die Rentnerin bewusst im Glauben gelassen, dass er seine Dienstleistungen nicht nur des Geldes wegen erbringe, sondern aus Freundschaft und Zuneigung ihr gegenüber.

Gewisse Grenzen, die zwischen einer Person und deren Pfleger zu erwarten wären, sind aus Sicht des Bundesgerichts überschritten worden. Die Rentnerin habe im Pflegefachmann gleichsam ihren Retter, Freund und Wohltäter gesehen. Das Bundesgericht geht davon aus, dass die Rentnerin das Vermächtnis widerrufen hätte, wenn der Mann sie über die wahren Grundlagen seiner Beziehung zu ihr aufgeklärt hätte. Die Liegenschaft fällt deshalb nicht ihm, sondern den Erben zu.

Autorin: Andrea Gisler
erschienen im «Gossauer Info»



Zurück zur Medien-Übersicht