Neue Kolumne

 
1. Dezember 2022

Tödliches Medikament

Eine fünfzigjährige Frau konsultiert ihren neuen Hausarzt in dessen Arztpraxis. Dieser verschreibt ihr ein Medikament, das sie im Anschluss an den Arztbesuch in einer Apotheke bezieht. Die Frau verstirbt wenige Stunden später an einem allergischen Schock.

Die Kinder der Verstorbenen verlangen eine Bestrafung des Arztes wegen fahrlässiger Tötung und fordern von ihm eine Genugtuungszahlung. Sie werfen ihm vor, unvorsichtig gehandelt zu haben. Nach Auffassung der Kinder hätte der Arzt wissen müssen, dass die Frau auf dieses Medikament allergisch reagieren würde und dies zum Tod führen könnte.

Das Bundesgericht sieht das anders. Der Arzt hatte die Frau nämlich ein Jahr zuvor beim Erstgespräch ausdrücklich nach Allergien gefragt, was die Frau verneint hatte. Als er sie aufforderte, ihm frühere Krankenakten zu bringen, überliess sie ihm nur ein paar wenige Unterlagen. Bei einer weiteren Konsultation bat er sie nochmals eindringlich, ihm die vollständigen medizinischen Akten zur Verfügung zu stellen. Weil die Akten weiterhin ausblieben, gab es gemäss Bundesgericht für den Arzt im Zeitpunkt der Verschreibung keine Hinweise auf eine Unverträglichkeit auf Antibiotika. Er habe die richtige Diagnose gestellt und ein geeignetes Medikament verordnet. Es habe für den Arzt kein Anlass bestanden, an den Angaben der Frau, wonach keine Antibiotika-Allergie bestehe, zu zweifeln. Das Bundesgericht hält zudem fest, dass der Arzt weder nach Gesetz noch nach der Standesordnung der FMH verpflichtet war, selbst aktiv zu werden und die Krankenakten bei der früheren Hausärztin zu beschaffen.

Autorin: Andrea Gisler
erschienen im «Gossauer Info»

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